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Fund und Erfindung

Zum Werk von Wolfgang Kowar

Michael Stoeber

 

In Notizen, die Wolfgang Kowar zu seinem künstlerischen Werk geschrieben hat, äußert er am Ende den leider nicht mehr zu erfüllenden Wunsch: „Ach, könnten doch François Dufrêne und Raymond Hains meine Arbeiten sehen!“ Sie können es nicht, weil sie inzwischen gestorben sind. Aber der innig geäußerte Wunsch zeigt, wo Kowar seine künstlerischen Wurzeln sieht und in welche Traditionslinie er sich mit seinem Werk stellt.

Dufrêne und Hains gehören als Affichisten zu jenen Künstlern der Nouveaux Réalistes, der Neuen Realisten, um den Kritiker Pierre Restany, die sich 1960 in der Pariser Wohnung von Yves Klein zur Künstlergruppe zusammenschließen. Die Affichisten, zu denen auch noch Jacques de la Villeglé und der Italiener Mimmo Rotella zählen, heißen so, weil sie in den Werbeplakaten (Frz.: affiche) der Städte den Rohstoff ihrer Kunst finden.

Die Plakate werden auf ihren Werbeflächen regelmäßig vielfach übereinander geklebt. Dabei kommt es per Zufall zu oft reizvollen Bildkonstellationen, wenn Wind und Wetter oder menschliche Hände an ihnen reißen und Text- und Bildfragmente der unter ihnen liegenden Plakate an die Oberfläche drängen. Die Affichisten hatten sensible Augen für solche artistischen Zufallsfunde. Sie lösten sie ab, klebten sie auf Leinwand oder andere Bildträger und präsentierten sie in der Tradition des Readymade von Duchamp dem Publikum.

Dabei kommt es durchaus zu individuellen Signaturen, abhängig von den intellektuellen und emotionalen Vorlieben der Künstler. Mimmo Rotella machte seine Leidenschaft für Filmplakate bekannt. Hains und Villeglé dagegen bevorzugten das konsumkritische und politisch agitierende Plakat, während Dufrêne das freie Spiel von Farben und Formen liebte. Um die Abstraktion seiner Werke zu forcieren, klebte er gerne die Rückseiten der Plakate auf seine Leinwände.

Mit diesem Gestus steht er unter allen Affichisten Wolfgang Kowar am Nächsten, dessen künstlerischer Rohstoff von den Litfaßsäulen kommt. Er löst die, viele Zentimeter dicken Plakatschichten, die über Jahre durch immer neue Überklebungen entstanden sind, en bloc von ihnen ab, nicht wie die Affichisten nur die letzten zwei, drei, vier Plakate. In der Form der Papierballen ist die Rundung der Litfaßsäule mit aufgehoben. Kowars Bearbeitung seiner Funde ist somit sowohl eine malerische als auch plastische.

Das strahlen auch seine Werke aus. Sie sind zugleich Bild und Plastik und entsprechen in ihrem hybriden Charakter dem „specific object“ – so hat Donald Judd Werke bezeichnet, die zwischen Malerei und Skulptur angesiedelt sind. Im Grunde bieten Kowars Werke dem Betrachter drei Perspektiven: Zum einen ihre Form als plastisches Objekt, zum anderen sowohl ihre Vorder- als auch ihre Rückseite als jeweils eigenständiges und voneinander unabhängiges Bild. 

Abhängig von der Stärke des Plakatballens liegen zwischen Vor- und Rückseite oft Zeitabstände von Jahrzehnten. Wenn Kowar in den größeren Ballen hinein schneidet, um sein Werk aus ihm herauszulösen, kommt er sich vor wie ein Archäologe. Aber es geht ihm bei seinem Tun nicht um die Rekonstruktion einer bestimmten historischen Zeit. Die Plakatmasse ist für den Künstler nicht gesellschaftlich politische, sondern ästhetische Verfügungsmasse.

Seine archäologischen Schnitte suchen nicht, sie finden. Nicht von ungefähr erinnert diese weitere Selbstbeschreibung Kowars an das stolze Wort von Picasso: „Ich suche nicht, ich finde.“ Während letzterer findet, weil sein Ingenium ein unermüdlich sprudelnder Quell der Inspiration für immer neue Werke war, findet Kowar, weil sein Material nicht müde wird, ihm immer neue Anregungen zu liefern.
Er muss sich nur entscheiden, welche Form- und Farbkonstellationen er auswählen und in seinen Werken herausarbeiten will.

Was ihn dabei leitet ist das gelingende Bild. Es stellt sich für ihn her, wenn die dramatischen Begegnungen von Form und Farbe zum Ausgleich kommen. Wenn die aufgeregten  Linienströme, die durch das Bild strömen, sich beruhigen. Wenn das Chaos der Formen und Farben aus unterschiedlichen Zeiten und Epochen sich zur überzeitlichen Harmonie fügt, die dem Augen des Betrachters wohl tut und von der Utopie eines Kosmos kündet, der schon immer die Heimstatt der Kunst war.

Um zu diesem Bild zu gelangen, das ebenso sehr Fund wie Erfindung ist, schneidet, fräst und glättet Wolfgang Kowar. Hobelt er Papiermasse weg, verklebt er Schichten neu, und schleift er seine Bildoberflächen. Achtsam und vorsichtig. Nur so stellt sich die Magie des Bildes ein, die stets eine der Form ist. Sie lässt hinter dem aktuellen Bild, das Wirklichkeit durch die Hand des Künstlers wird, noch viele andere auftauchen, die Realität erst in der Fantasie des Betrachters gewinnen.